Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien: Unsere vollständigen & ungekürzten Antworten!
Nachfolgend finden Sie unsere vollständigen und ungekürzten Antworten, die dem FALTER zur aktuellen Berichterstattung über die Kinder- und Jugendpsychiatrische Versorgung in Wien vorab übermittelt wurden:
Wie in allen Bereichen werden auch Patient*innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie so lebensnah wie möglich behandelt. Das bedeutet also ambulant vor tagesklinisch vor stationär. Vor diesem Hintergrund sind wir, die Kinder und Jugendliche psychosozial behandeln, eng vernetzt und pflegen eine langjährige und gute Kooperation.
Daher erfolgt die Beantwortung der Fragen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Abstimmung mit allen Einrichtungen gesammelt über den Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien.
Ewald Lochner, MA
Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien
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Herr Lochner, Sie sind sowohl Psychiatriekoordinator der Stadt Wien als auch kaufmännischer Leiter des PSD. Ist das vereinbar? Geht es bei Ihrer Arbeit als Koordinator nicht auch um den PSD als einen von mehreren Stakeholdern (etwa Wigev, AKH), die unterschiedliche Interessen haben?
„Selbstverständlich ist das vereinbar, die Aufgaben sind ganz unterschiedlich. Alle aufgezählten Organisationen haben ein gemeinsames Interesse, nämlich die State-of-the-Art-Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, d. h. die Behandlung am best point of care. Für ein entsprechendes Nahtstellenmanagement an den Schnittpunkten sorgen wir gemeinsam in unserer sehr guten Zusammenarbeit – und hier kommt der Psychiatrische und Psychosomatische Versorgungsplan (PPV) ins Spiel. Als Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen ist es unter anderem meine Aufgabe, für die Umsetzung und Weiterentwicklung des PPV, der 2016 im Wiener Landtag in seinen Grundzügen beschlossen wurde, zu sorgen. Der PPV definiert gemäß State-of-the-Art-Behandlung ambulant vor tagesklinisch und vor stationär ebenso wie die multiprofessionelle Behandlung. Der Ressourcenbedarf einzelner Organisationseinheiten im Rahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in Wien – unabhängig von ihrer organisatorischen Zuordnung – wird durch den PPV definiert.“
In letzter Zeit wurden PSD-Ambulatorien eröffnet, um die Spitäler zu entlasten. Allerdings wurde dafür auch Personal rekrutiert, das in den Spitälern fehlt. Welche Strategie verfolgen Sie, damit die Krankenhäuser noch Personal bekommen?
Welche Rolle spielt der PSD beim Abwerben von Fachärzten? Wie kooperieren Wigev und PSD?
„Gerade in Bereichen, in denen es einen Mangel an Fachkräften gibt, ist es ungemein wichtig, dass wir Wege finden, als Stadt ein attraktiver Arbeitsort zu werden. Hier gibt es seit Jahren gemeinsame Bemühungen. Die enge Zusammenarbeit zwischen WIGEV und PSD-Wien sorgt im Rahmen des PPV auch für innovative Projekte und Ansätze, die Anreize für unterschiedliche Fachkräfte sowohl im ambulanten, tagesklinischen als auch stationären Setting bieten. Selbstverständlich kann es vorkommen, dass Mitarbeiter*innen sich beruflich verändern möchten und von einer Organisation in die andere wechseln – das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. In Zeiten, in denen im gesamten deutschsprachigen Raum händeringend nach Fachärzt*innen gesucht wird, ist unser oberstes Interesse hier ganz klar, die Kolleg*innen im Wiener Versorgungssystem zu halten.
Der Mangel an Fachärzt*innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein europaweites Problem. Das Fach gibt es in Österreich erst seit 2007. Gemeinsam haben die Fachgesellschaft und die Stadt Wien dafür gesorgt, dass es die Bundesverordnung für die Ausbildung von Kinder- und Jugendpsychiater*innen nun ermöglicht, dass ein*e Fachärzt*in zwei Auszubildende ausbilden darf. Da dies den Bedarf noch immer nicht deckt, arbeiten wir weiter daran, dieses Verhältnis auf das in beispielsweise Deutschland übliche Verhältnis von 1:4 zu erhöhen. Zusätzlich wird derzeit intensiv an einem gemeinsamen Ausbildungsverbund zwischen dem WIGEV, AKH und PSD-Wien gearbeitet. Verschiedene Maßnahmen haben zu einer höheren Flexibilität zwischen den Institutionen gesorgt. Beispielsweise werden neben finanziellen Anreizen für neue Fachärzt*innen auch spezielle Fortbildungsprogramme sowie Rotationsmöglichkeiten zwischen den Organisationen angeboten, um das Arbeitsumfeld spannend zu machen und Fachkräfte langfristig an Wien zu binden.“
Was hat sich verbessert in den letzten Jahren?
Wo sehen Sie Problemstellen der Psychiatrie insgesamt und Verbesserungspotenziale?
Welche Schritte sind geplant, um die Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verbessern? Stichwort Rosenhügel, wo auch weiterhin viel zu wenige Fachärzte arbeiten.
Wie viele Patienten wurden 2024 aufgenommen, im Vergleich zu 2019?
„Leider muss man vorausschicken: die psychosoziale Situation der Menschen hat sich aufgrund der vielen Krisen – Covid, Krieg, Teuerung, Klimakrise – in den letzten Jahren verschlechtert. Das ist eine Herausforderung, vor allem für Kinder- und Jugendliche. Positiv verändert hat sich die Wahrnehmung in der Gesellschaft, dass die psychische Gesundheit wichtig ist und wir auch entsprechend Mittel brauchen, mehr für die Behandlung von psychischen Erkrankungen zu tun.
Im ambulanten Setting im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie stehen 2025 für 3.000 Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen Versorgungsressourcen zur Verfügung. Im stationären Setting wurden 2024 rund 650 Kinder und Jugendliche behandelt.
Die stationäre Versorgung wird durch zwei transitionspsychiatrische Einheiten des WiGeV für Jugendliche und junge Erwachsene massiv unterstützt und entlastet, denn gerade der Übergang von der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Allgemeinpsychiatrie stellt eine besonders vulnerable Phase im Behandlungsverlauf dar. Das Verlassen des gewohnten Behandlungssettings und der – durch viel Beziehungsarbeit – vertrauten Behandler*innen kann nicht nur zu einer Verschlechterung der Erkrankung führen, sondern im schlimmsten Fall zum Behandlungsabbruch.
Daher gilt es hier Nahtstellenmanagement zu leisten und diesen Übergang mit Maßnahmen der Transitionspsychiatrie zu begleiten. In der Klinik Hietzing wurde 2018 das erste transitionspsychiatrische Angebot Österreichs geschaffen. Mittlerweile verfügt auch die Klinik Floridsdorf über eine spezielle transitionspsychiatrische Station, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter begleitet und Patient*innen zwischen 16 und 25 Jahren betreuen. Seither können im gesamten WIGEV immer mehr junge Menschen ins Adoleszenzalter begleitet und Behandlungsabbrüche reduziert werden.
Ergänzend dazu hat der PSD-Wien im Juli 2023 das Projekt AST – Ambulante Sozialpsychiatrische Transition ins Leben gerufen, um dies auch ambulant engmaschig begleiten zu können. In Kooperation mit der Sucht- und Drogenkoordination Wien und dem Anton Proksch Institut wurde zudem eine zusätzliche Transitionsstation mit 12 Betten geschaffen, um jungen Menschen zwischen 16 und 25 mit einer psychischen Erkrankung in Kombination mit Suchtproblematik ein vollumfassendes Therapieprogramm bieten zu können.
Im ambulanten Bereich haben wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch unterschiedliche Maßnahmen gesetzt, um die Versorgung zu verbessern. Jährlich werden rund 120 Kinder und Jugendliche im Rahmen von Home-Treatment, welches eine erforderliche stationäre Behandlung ersetzt, behandelt. Bis 2030 sieht der PPV vor, dass ein weiteres - das insgesamt sechste - Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulatorium zusätzlich bis zu 600 Patient*innen pro Jahr behandeln kann.
Bei allen aufgezählten Maßnahmen erfolgt die Behandlung multiprofessionell, das bedeutet, dass neben Ärzt*innen und Pflegekräften auch Psycholog*innen, Ergotherapeut*innen, Sozialpädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Musiktherapeutinen, etc. mit den jungen Patient*innen arbeiten.
Des weiteren kam es in vielen entscheidenden Bereichen zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen dem stationären und ambulanten Bereich, sodass eine zielgerichtete Behandlung möglich ist und Bruchstellen vermieden werden können. Mit innovativen Projekten, wie dem Home-Treatment, also der Behandlung junger Menschen, aber auch Erwachsenen (FACT) in ihrem Lebensumfeld wurde ein wichtiger Schritt für eine verbesserte Versorgung gesetzt. Mit der Gründung des FIRST LEVEL SUPPORT (FLS) 2024 wurde die sozialpsychiatrische Soforthilfe für Kinder und Jugendliche in Wien geschaffen. Diese dient als erste Anlaufstelle bei psychischen Krisen, vermittelt Betroffene und deren Bezugspersonen in die passenden Ambulatorien oder andere geeignete Unterstützungsangebote und übernimmt die Funktion einer Clearing- und Beratungsstelle. Ziel ist eine schnelle und verlässliche Krisenversorgung mit einer angestrebten Erreichbarkeit rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr."
Immer mehr Patienten sind sehr jung und haben migrantischen Hintergrund. Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede machen die Behandlung noch schwieriger. Gibt es Pläne der Stadt Wien, dieses Problem zu adressieren?
„Die Angebote der psychiatrischen Behandlung sollen von allen Menschen in Wien gleichermaßen genutzt werden können. Sollte es dabei zu sprachlichen Barrieren kommen, stehen im System selbstverständlich nicht nur mehrsprachige Mitarbeiter*innen zu Verfügung, sondern auch Videodolmetsch-Angebote.
Gerade bei jungen Wiener*innen mit Migrationshintergrund ist die Prävention und möglichst frühzeitige Unterstützung essenziell. Mit dem Auf- und Ausbau der psychosozialen Unterstützung an Wiener Schulen und in Jugendzentren durch multiprofessionelle Teams werden nicht nur neue Zugänge zu psychosozialer Gesundheit geschaffen, sondern auch Berührungsängste abgebaut. Die Jugendlichen kommen dabei in ihnen vertrauten Settings in Kontakt mit Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen und klinischen Psycholog*innen, wodurch Vorurteile und Ängste gegenüber psychischen Unterstützungsangeboten abgebaut werden können – auch bei den Eltern.“
Mir ist zu Ohren gekommen, dass Primaria Lienbacher den Rosenhügel verlassen wird. Warum? Gibt es bereits eine Nachfolge?
Wie viele Fachärzte exklusive Primaria arbeiten aktuell am Rosenhügel? (Teil- oder Vollzeit?)
Wie viele auszubildende Assistenzärzte gibt es?
Stimmt es, dass Ärzte aus Ottakring am Papier die Ärzte am Rosenhügel ausbilden?
Was hat sich seit 2022, der letzten Falter-Recherche, am Rosenhügel verbessert?
„Weshalb Menschen ihren Job wechseln, ist eine sehr persönliche Frage. Aus Sicht der Klinikleitung geht es aber selbstverständlich immer um eine rasche Nachbesetzung. Es gibt hier einen engen Austausch zwischen WIGEV und PSD-Wien.
Mit Stand Februar 2025 arbeiten an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung Klinik Hietzing 16,6 vollzeitäquivalente Ärzt*innen. 4,5 vollzeitäquivalente Fachärzt*innen arbeiten in den Stationen für Psychosomatik in der Klinik Ottakring – welche innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung der Klinik Hietzing als Department geführt wird. Zusätzlich arbeiten auch ca. 3 Vollzeitäquivalente freiberufliche Fachärzt*innen an der Abteilung mit. Um die Personalsituation langfristig zu stabilisieren, wurden im Herbst 2024 zusätzlich 5 Dienstposten für Ärzt*innen in Ausbildung geschaffen. Auf der Abteilung arbeiten aktuell 11 vollzeitäquivalente Ärzt*innen in Ausbildung. Für die stationäre Versorgung von Patient*innen stehen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Hietzing 43 Betten zur Verfügung.
Insgesamt ist es wichtig, sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie im gesamten anzusehen: in der stationären Versorgung des Wiener Gesundheitsverbundes (Klinik Hietzing und Klinik Floridsdorf) arbeiten 21,3 vollzeitäquivalente Ärzt*innen. In den fünf Ambulatorien des PSD Wien sind rund 16,5 vollzeitäquivalente Ärzt*innen im Einsatz. Zudem arbeiten 21 vollzeitäquivalente klinische Psycholog*innen sowie 18,8 vollzeitäquivalente Pflegefachkräfte in diesem Bereich. Weitere Berufsgruppen wie Diätologie, Ergotherapie, Sozialarbeit, Kunst- und Musiktherapie, Sozialpädagogik sowie Physiotherapeutinnen ergänzen das multiprofessionelle Team der ambulanten Versorgung. Im niedergelassenen Bereich stehen aktuell 15 Kinder- und Jugendpsychiaterinnen mit Kassenvertrag (Plan 16) den 56 Wahlärzt*innen mit dieser Fachrichtung gegenüber.“
Anstieg psychischer Erkrankungen und Altersverschiebung: Schwerpunkt Kinder-und Jugendpsychiatrie
„Die COVID-Pandemie und die damit verbundenen Folgen haben Kinder und Jugendliche vor enorme Herausforderungen gestellt. Seither ist ein deutlicher Anstieg psychischer Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen. Krieg, Teuerung und Klimakrise – es gibt zahlreiche Faktoren, die auch aktuell negativ auf die Psyche der jungen Menschen einwirken und den Druck erhöhen. Die Zahl der Ambulanzfrequenzen auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist im Wiener Gesundheitsverbund im Zeitraum 2018 bis 2024 um 35% angestiegen. Auch die stationären Fälle haben sich seit 2018 um 86% erhöht. Die häufigsten Diagnosen sind Belastungsstörungen, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen. Besonders auffällig ist die Verschiebung des Alters der betroffenen Patient*innen: Die Gruppe der 15 bis 19-Jährigen macht inzwischen 59% der stationären Fälle aus.“
Zum Thema Bettensperre:
„Wichtig ist: die Zahl der Betten (ebenso wie gesperrte Betten) ist für das Bettenmanagement des WIGEV eine wichtige Größe, aber kein Indikator für die Versorgung der Patient*innen. Grundsätzlich ist die Bettensperre ein gängiges Instrument im Klinikmanagement und es gibt sie aus verschiedenen Gründen. Ein paar Beispiele sind etwa Sanierungen, technische Wartungen oder personelle Gründe wie Krankenstände. Bettensperren bedürfen einer Genehmigung im WiGeV. Die wichtigsten Bedingungen für eine Genehmigung sind, dass die Patient*innen-Versorgung weiterhin gewährleistet und die Sperre mit den anderen Fachbereichen innerhalb des Wiener Gesundheitsverbundes akkordiert ist.
Aktuell ist diese Versorgung in den stationären Kinder- und Jugendpsychiatrischen Einrichtungen gesichert. Sollte es einmal im stationären Bereich zu einer Situation kommen, in der die Versorgung neuer Patient*innen nicht garantiert werden kann, wird in enger Abstimmung mit dem PSD-Wien besprochen, welche Alternativen zum stationären Aufenthalt geboten werden können.“
Was wünschen Sie sich von der Politik?
„Die Grundhaltung Mental-Health in all policies und die Möglichkeit, mehr Ärzt*innen ausbilden zu können. Zusätzlich sind natürlich ausreichende finanzielle Ressourcen für die psychosoziale Behandlung und Unterstützung unerlässlich. Die diesbezüglich klare Haltung im Regierungsprogramm der neuen Bundesregierung lässt für die Verbesserung der Situation von Menschen mit psychischen Problemen berechtigt hoffen.”